Donnerstag, 26. Januar 2012

Lebenskünstler

In meinem Leben sind mir einige wenige wahre Lebenskünstler begegnet. Von zweien von ihnen möchte ich heute erzählen.

Einer davon war mein Opa. Mein Opa war kein armer Mann. Er war Bergmann gewesen und hatte deshalb eine gute Rente. Trotzdem arbeitete er nach seiner Pensionierung weiter. Zuerst als Heizer im Krankenhaus, dann als Küster in unserer Kirche. Er brauchte das Geld nicht, aber die Arbeit machte ihm einfach Freude, und er erfüllte jede dieser Aufgaben mit so viel Begeisterung, Präzision und Engagement, dass jeder Respekt vor ihm hatte. Und obwohl er bis ins hohe Alter zu seiner Rente dazu verdiente, lebte er bescheiden. Solange ich mich zurück erinnern kann, bewohnte er mit meiner Oma eine winzige Wohnung im Anbau unseres gemeinsamen Hauses. Sie hatten Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad und Flur, alles winzig, Trotzdem brachten sie es irgendwie fertig, dort mit der ganzen Familie oder mit Freunden zu feiern.
Mein Opa hatte viele schöne Anzüge im Schrank. Die trug er sonntags zur Kirche oder wenn er zum Einkaufen ging, und als er starb, waren sie noch wie neu, und mein Onkel konnte sie auftragen. Während der Woche zu Hause trug mein Opa eine uralte Hose mit passendem Hemd und einen Strick als Gürtel, so sparsam war er. Ich weiß noch, dass ich ihn öfter warnte, er solle sich nicht am freitags morgens an die Straße stellen, weil ihn sonst die Müllabfuhr versehentlich mitnehmen könnte, aber er lachte nur. Ihm war es herzlich egal, was die Leute denken könnten. Mein Opa wusste, die kleinen Dinge des Lebens zu genießen. Er liebte seine Zigarren und sein Schnäpschen, und jedes Mittagessen, das meine Oma ihm kochte, war gerade an dem Tag sein Lieblingsessen. Selbst sein Tod passte zu ihm. Wir fanden ihn in seinem Wohnzimmer, in seinem Fernsehsessel, die Füße auf einem Hocker. Auf dem Tisch neben ihm stand sein halb gegessenes Abendbrot mit einem Glas Bier, und im Fernsehen lief eine Musikshow. Und er lächelte.
Opa, ich vermiss dich immer noch!

Nun mag man sagen, mein Großvater war alt, und da ist es leicht, weise zu sein, die Kunst des Lebens zu beherrschen. Schließlich hatte man ja lange genug Zeit, sich zu üben. Aber ich habe auch noch ein Beispiel, das zeigt, dass Lebenskunst und Weisheit nicht vom Alter abhängig ist.

Vor vielen Jahren, noch als Studentin, machte ich mit einer Gruppe anderer junger Menschen eine Reise nach Korsika. Wir fuhren mit einem kleinen Bus und übernachteten auf Campingplätzen. Auf diese Weise umrundeten wir die ganze Insel. Wir hatten nicht viel Geld, und so lebten wir sehr einfach. Wir wanderten mit den Rucksäcken in die Städte und Dörfer, kauften Gemüse und Pasta und kochten alle zusammen auf Campingkochern. Zum Frühstück und Abendessen gab es frisches Baguette mit Käse und Oliven. Es war wundervoll, und wir hatten alle viel Spaß. Aber eine junge Frau stach aus der Gruppe heraus. Sie war das, was ich auch heute noch als Lebenskünstlerin bezeichnen würde. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, aber ich weiß noch, dass sie lange krause rote Haare hatte. Sie verstand es, jede Kleinigkeit so sehr zu genießen, wie ich es nie vorher gesehen hatte, und wie es mir auch seit dem nicht mehr begegnet ist. Sie war stets ganz präsent und öffnete sich der Wärme der Sonne, dem Rauschen des Meeres und dem Geschmack der Speisen. Sie war so lebendig! Und man merkte ihr an, dass sie mit sich und ihrer Welt, so wie sie war, glücklich und zufrieden war. Zum Bespiel brauchte sie, nachdem sie ihre Haare gewaschen hatte, immer eine Ewigkeit, um sie durchzukämmen, weil sie so kraus waren. Wenn wir sie fragten, ob ihr das nicht auf die Nerven ginge und ob sie nicht lieber glattere Haare hätte, sagte sie "Nein, ich mag meine Haare." Sie mochte auch ihren Beruf, sie mochte das Wetter, wie auch immer es gerade war, sie nahm die Welt in jedem Augenblick so, wie sie sich ihr gerade darbot. "So, genau so will ich sein," dachte ich damals. Aber es ist mir bis heute nicht gelungen. Nun, zum Glück ist es ja nie zu spät.

Und du, Lebenskünstlerin, falls du dies liest und dich wieder erkennst, melde dich doch bitte mal. Ich möchte gern von dir lernen.

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